In der Rettungsanstalt sollen Kinder Aufnahme finden, die keine Eltern mehr haben oder von denen nur noch ein Elternteil am Leben ist, der die Kinder nicht angemessen versorgen kann, entweder weil das Geld oder die Zeit dafür fehlt. Manchmal werden auch Kinder aufgenommen, die noch Vater und Mutter haben. In solchen Fällen sind die Eltern entweder sehr arm oder mit der Erziehung überfordert, so dass sie selbst oder die Behörden entscheiden, dass ihre Kinder in der Anstalt besser aufgehoben seien. Dort sollen sie zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft erzogen werden, die später einmal selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen können. Deshalb liegt der Fokus auf der Vermittlung landwirtschaftlicher und hauswirtschaftlicher Kenntnisse. Aber auch schulische und religiöse Bildung sollen nicht zu kurz kommen. Tugenden wie Fleiss, Ordnungssinn, Gehorsam, Genügsamkeit und Frömmigkeit sollen gefördert, Laster wie Müssiggang, Leichtsinn, Lügen, Streitlust, Eigenwille und Rechthaberei durch eine christliche Erziehung bekämpft werden. Dabei kommen folgende Strafen zur Anwendung: „Versagung von Genüssen, öffentliche Rüge, Absonderung des Fehlbaren von den Andern, und selten körperliche Züchtigung mit der Ruthe.“

Ein Tag in der Anstalt sieht folgendermassen aus: Im Sommer müssen die Kinder um fünf Uhr aufstehen, im Winter um halb sechs. Nach dem Aufstehen wird gebetet. Danach werden Gesicht und Hände gewaschen, die Haare gekämmt und die Kleider gereinigt. Daraufhin geht es ins Schulzimmer, wo bis Viertel vor sieben Gedächtnisübungen und die Erledigung schriftlicher Aufgaben auf dem Programm stehen. Danach folgt die Morgenandacht mit Gebet, Gesang und Lesungen aus der Bibel. Um Viertel nach sieben wird gefrühstückt. Nach dem Frühstück müssen die Kinder aufräumen, waschen, putzen und Stallarbeiten erledigen. Im Winter findet von halb neun bis 12 Uhr der Schulunterricht statt. Im Sommer ist dafür meist keine Zeit. Um 12 Uhr wird das Mittagessen serviert. Am Nachmittag wird gearbeitet: Die Mädchen nähen, stricken und flicken Strümpfe, die Knaben erledigen die Arbeiten auf dem Feld oder ums Haus herum, hacken z. B. Holz und bedienen den Webstuhl. Um vier Uhr gibt es Zvieri. Danach folgt von fünf bis sieben nochmals Schulunterricht. Um sieben Uhr wird das Abendessen aufgetischt. Nach dem Abendessen wird den Kindern ein wenig Unterhaltung geboten: Der Hausvater liest ihnen etwas vor oder erzählt eine Geschichte. Den Abschluss des Tages bildet die Abendandacht, die jeweils um halb neun stattfindet.

Quellen
Statuten der Werdenbergischen Rettungs-Anstalt (1846)
Jahresbericht 1850