Stefania Wilczyńska wurde 1886 in Warschau geboren, das damals noch zum russischen Zarenreich gehörte. Die Familie mit vier Kindern war zwar jüdischen Glaubens, jedoch nicht praktizierend. Da Stefanias Vater, ein Textilfabrikant, gesundheitlich angeschlagen war, fiel die Erziehung ihrer patriotischen Mutter zu. Sie setzte sich früh für das Bildungsrecht für Frauen ein und schickte ihre Töchter auf eine Schule, in der verbotenerweise auf Polnisch unterrichtet wurde. Nach dem Gymnasium ging Stefania zum Studium der Naturwissenschaften vermutlich in die Schweiz und nach Lüttich in Belgien. Doch sie interessierte sich auch leidenschaftlich für Pädagogik. In der Nähe ihres Warschauer Elternhauses befand sich ein kleines Waisenhaus, zu dessen Leiterin sie schnell aufstieg. Zur gleichen Zeit wirkte auch der damals schon bekannte Arzt, Pädagoge und Autor Janusz Korczak in der Stadt. Korczak setzte sich stark gegen die Ungleichbehandlung und die schlechte Stellung der Kinder sowie für deren Rechte in der damaligen Gesellschaft ein. Korczak und Wilczyńska begegneten sich wohl irgendwann zwischen 1908 und 1910, die genauen Umstände sind unklar. Immer öfter schaute Korczak in Wilczyńskas Heim vorbei und unterstützte sie. Wilczyńskas Organisationstalent und Ordnungssinn ergänzte Korczaks natürlichen Umgang mit Kindern bestens. 1910 fasste Korczak den Entschluss, seine Arztpraxis aufzugeben und Leiter eines Waisenheims für jüdische Kinder zu werden. Nach einigen Schwierigkeiten konnte im Oktober 1912 das Heim mit dem sprechenden Namen „Dom Sierot“ („Haus der Waisen“) in Warschau seine Türen öffnen. Gemeinsam entwickelten Wilczyńska und Korczak dort einen Ansatz, der den Kindern Selbstverwaltung und Gleichwertigkeit zugestand und die Bedingungen, welche die Kinder zum Heranwachsen benötigten, berücksichtigte. Das Waisenhaus wurde zur legendären „Kinderrepublik“ mit eigener Zeitung, Verfassung, Parlament und Gericht.
Drei Jahrzehnte, von 1912 bis 1942, arbeiteten Wilczyńska und Korczak eng zusammen. Auch der NS-Terror im besetzten Polen ab 1939 vermochte die Zusammenarbeit nicht zu zerstören – vorerst. Die Zwangsräumung des Waisenhauses am 5. oder 6. August 1942 bedeutete das Ende des Dom Sierot. Zusammen mit rund 200 Kindern und den Angestellten wurden Wilczyńska und Korczak ins Vernichtungslager Treblinka verschleppt, was die umgehende Ermordung durch Gas für alle dort Ankommenden bedeutete.
Die Vernichtungswut des NS-Regimes hat zur Folge, dass von Wilczyńska kaum Dokumente erhalten sind. Ihr Leben ist quasi eine Rekonstruktion aus Zeugenaussagen. Nicht einmal Wilczyńska Sterbeort ist erhalten: Das Lager Treblinka wurde Ende 1943 zur Vertuschung der Verbrechen von der SS dem Erdboden gleichgemacht. Heute erinnert deshalb ein symbolischer Grabstein auf dem jüdischen Friedhof in Warschau an Wilczyńska, die zu Unrecht lange nur im Schatten Korczaks stand.